Hier als literarisches horsd'oeuvre der 1. Teil einer in Arbeit befindlichen Kurzgeschichte mit dem Titel "Martes Schmalz"...
Martin sah nur von außen aus wie
ein Punk. Im Inneren regierte, wenn auch unter anderen Vorzeichen,
die Ordnung. Er war ein Mann der Gewohnheit. Seit bald zwanzig Jahren
arbeitete er bei jedem Wetter als
Briefträger in Kreuzberg. Die Arbeit war hart, doch nicht ohne ihre
kleinen Freuden und sie bescherte Marte, wie ihn seine Freunde
nannten, freie Nachmittage ab 15 Uhr.
Marte war ledig, gern mit sich
allein und hatte sich komfortabel inmitten seiner Routinen
eingerichtet. Vom Temperament einer trägen, friedlichen Katze
nicht unählich, verabscheute Marte den Wechsel. Wenn er in seinem Bezirk einen Umzugswagen sah, was in letzter Zeit immer häufiger
vorkam, blickte er beunruhigt zu Boden. Wenn sich die Namen auf den
Klingelschildern änderten und neue Namen auf den Briefköpfen seines
Zustellungsbezirkes auftauchten, konnte ihm das ganze Nachmittage
verderben. Da Marte wusste, dass die Menschen das Chaos in sich
tragen, hatte er vorgesorgt und das eigene Leben in unzählige sich
wiederholende Abschnitte eingeteilt.
Morgens vor der Arbeit las er
die linksgerichtete tageszeitung oder vielmehr studierte er sie von
der ersten bis zur letzten Seite. Dann fuhr er mit dem Fahrrad zum
Postamt, wo er die vorsortierten Briefe für seinen Zustellungsbezirk
abholte und auf das Dienstrad wechselte. Mittags aß er in der
Kreuzberger Markthalle, abends kochte er selbst und trank dazu
reichlich Sternburg Pilsner. Nur am Wochenende traf er sich ab und zu
mit Gleichgesinnten in einer Fußballkneipe, um seiner Mannschaft
Borussia Dortmund beizustehen.
Am Mittwoch kaufte er, meist kurz vor
Ladenschluss, im Fischladen in der Adalbertstraße eine Handvoll
Sprotten, die er sich in der Pfanne briet. Am Sonntag Abend schaute
er wie alle anderen deutschsprachigen Mieter in seinem Haus, den Tatort und
rauchte den einzigen Joint der Woche. Dann streckte er sich leicht
benebelt auf seinem Bett aus und ließ die neue Woche kommen.
Obwohl
er im Herzen ein Freidenker war, befolgte er auch bei der
Körperpflege strenge Regeln. Jeden Morgen rasierte er sich mit derselben Gründlichkeit. Montag, Mittwoch und Freitag wurde geduscht, am
Sonntag gönnte er sich ein Bad. Er putzte sich zweimal täglich die
Zähne, wenn möglich drei Minuten lang. Jeden zweiten Sonntag
schnitt er sich seine Nägel, jeden dritten Samstag, ehe er in die
Kneipe ging, stutzte er sich seinen Irokesenhaarschnitt, rasierte
sich die Seiten aus und säuberte seine Ohren.
Der Tag, an dem sich Martins Leben
ändern sollte, war so ein Samstag. Wie immer am Wochenende trat er später als sonst aus dem nachtwarmen Zimmer in den
kühleren Gang hinaus, ging die vier Schritte zum Badezimmer und
erledigte seine Toilette. Das Geräusch der Haarschneidemaschine
erinnerte an das Surren einer Katze. Marte liebte dieses Geräusch,
das Wort „Erneuerung“ geisterte durch sein Hirn. Nach dem
Rasieren der Seiten blickte er sich im Spiegel an. Ja, er sah nicht
schlecht aus im Grunde. Das Radfahren und die viele Bewegung an der
Luft hielt ihn auch in seinen Vierzigern schlank und bildete ein willkommenes Gegengift zum überdurchschnittlichen Bierkonsum, den er sich auch um
den Preis eines stattlichen Bäuchleins nicht nehmen ließ. Zufrieden drehte er
sein Spiegelbild nach rechts und links. Er klopfte sich die
dunkelblonden Stoppeln vom Shirt und öffnete die rechte Schranktür seines Aliberts, wo er sich ein Wattestäbchen aus einer kleinen Plastikbox
fischte und es zufrieden in seinem rechten Ohr versenkte. Einmal
linksherum, einmal rechtsherum, behutsam darauf bedacht, die zarte
Apparatur des Innenohrs nicht zu beschädigen. Ein seltsames Gefühl
von Vollständigkeit überkam ihn, während das Ohrenstäbchen tief in der Körperöffnung steckte, aber auch ein Gefühl als würde er von innen heraus abgehört.
Als sein Blick beim Herausziehen das Wattestäbchen streifte, stutzte
er. Statt des üblichen gelblich orangefarbenen Ohrenschmalzes klebte
da eine Masse, die Marte noch nie gesehen hatte. Mhmm. Sie war, ja, anders konnte man es kaum sagen, sie golden.
Er führte das Stäbchen zur Nase, roch daran, schreckte angeekelt
zurück. Das Zeug roch wie Ohrenschmalz. Auch von der Konsistenz
her wirkte es so, nur die Farbe, dieser wunderschöne,
majestätische Ton verlieh der seltsamen Schmiere auf dem Stäbchen
den Nimbus des Erhabenen.
Ungläubig steckte Martin das unbenützte
Ende des Stäbchens ins Ohr zurück und drehte nun etwas weniger
vorsichtig darin herum. Als er es herauszog war da wieder dieses
Strahlen. Was war ihm da nur ins Ohr gekommen? Er konnte sich nicht
erinnert, goldene Farbe abbekommen zu haben. Er griff sich ein neues
Stäbchen aus dem Schrank und stieß es aufgeregt ins Ohr.
Der Schmerz fuhr vom Ohr quer durch den Kiefer bis zum Hals. Als er
das Stäbchen aus dem Ohr fischte, klebte darauf ein goldenes
Körnchen. Er steckte ein Stäbchen ins andere Ohr und siehe da, auch
in diesem Ohr hatte das Schmalz die königliche Farbe. So ein Quark
dachte er und rieb sich das schmerzende Ohr. So ein Quark!
Verwirrt
verließ er das Badezimmer.
to be continued...