Samstag, 6. Dezember 2014

Fliehkraft


                                                                            von Elisabeth R. Hager

Frau Konopkes Lächeln strahlte durch die Dunkelheit der Nacht. Um kurz nach vier zog sie am Schnürchen ihrer Leselampe, richtete sich auf, löste die Verkabelung und begann, noch unbekleidet, mit dem morgendlichen Programm, fünf Kniebeugen, die sie laut mitzählend absolvierte. Sie prüfte den Puls und schlüpfte in den Morgenmantel. Ein weißes Knäuel lag in einem Körbchen auf dem Boden und starrte unverwandt auf den grünen Schlauch, der den Teppich in zwei gleichschenkelige Dreiecke teilte. Kurz darauf ertönte ein Signal. Der Pudel trabte in die Küche, wo Frau Konopke das Futter schon in den Napf gestreut hatte. Sie saß, ihre Lesebrille auf der Nase, vor einer geleerten Müsli-Schale und zählte ihre Ration ab. Dann nahm sie drei von den Blauen und zwei von den Roten und drehte sich mit spitzen Fingern zur Feier des Tages eine Zigarette. Die steckte sie in die Tasche ihres Morgenmantels. Sie faltete die Zeitung auf, Neues Deutschland, mit dessen Lektüre seit über dreißig Jahren jeder ihrer Wochentage seinen Anfang nahm. Lange schaute sie auf die schwarzen Zahlen auf der Titelseite: 09.11.. Dann wandte sie sich zum Pudel, der ihr im Sitzen bis zum Nabel reichte: Zeit, dass wir uns die Beine vertreten, Castor. Mutti hat heute ihren großen Tag. Im Flur zeigte sie mit dem Finger auf eine der vergilbten Urkunden, die eingerahmt an der Wand hingen: Ich war. Ich bin. Ich werde sein. 

Geräuschvoll glitt der Fahrstuhl fünfzehn Stockwerke hinunter ins Erdgeschoß, wo nur noch das Klappern ihrer Pantoffel auf dem Steinboden die Stille der Fertigteilbetonierung durchbrach. Vor der Tür der Tag, den Frau Konopke seit Monaten herbeigesehnt hatte. Sie stellte sich auf den Rasen und richtete den Blick in den Himmel. Weitläufig verstreut, brachen Hochhäuser aus dem flachen Nichts der Landschaft. Im Dämmerlicht wirkten sie wie exakt gehauene Steine auf denen um diese Zeit bereits einige Glühwürmchen leuchteten. Der Himmel war eine graue Decke. Irgendwo im obersten Stock ging ein Licht an.  Der Pudel schnüffelte angeregt durchs Gras. Im Zwielicht des Morgens sah er aus wie eine vom Himmel gefallene Wolke, die nun gemächlich über dem Boden trieb. Frau Konopke inhalierte tief und entwarf mit kühnem Blick ein Bild des kommenden Tages. 

Ein Mensch näherte sich. Eine Frau, so schmächtig wie Frau Konopke selbst, lange blonde Haare. Jung, vielleicht fünfundzwanzig. Aber ihr Gang war seltsam.  Wie komme ich bitte von hier weg? Ich will so schnell wie möglich in die Stadt. So schnell, wie 's geht!, sagte die Stimme, schrie es fast. Dabei glotzte die Frau auf eine Warze unterhalb von Frau  Konopkes rechtem Nasenflügel, für die sie sich auch mit über Siebzig Jahren noch schämte. Also lies sie sich Zeit. Die Bahnen fahren erst wieder in zwei Stunden. Da müssen sie wohl laufen, sagte sie schließlich und zog an der Zigarette. Dann drehte sie sich weg. Kurz darauf schaute sie der Frau dann doch hinterher, die auf der menschenleeren Hauptstraße wie auf Kommando zu laufen begann. 

Um kurz nach Sieben war Frau Konopke mit der Maske, wie sie zu sagen pflegte, fertig. Sie hatte sich zur Feier des Tages mit dem Glätteisen frisiert. Die Warze schlummerte unter einer Schicht hautfarbener Creme. Sie sah zwanzig Jahre jünger aus. Sie blühte. Erika Konopke war ein Stern. Um halb Acht klingelte es. Ein korpulenter Mann stand verlegen in der Tür. Oma, wir haben 's eilig. Die Gisela wartet im Auto. Wo ist der Hund? Sven war extra aus Eberswalde gekommen, um Erika Konopke zu ihrem späten Triumph zu kutschieren. Er ermahnte sie, die Tabletten zu nehmen und half ihr, ein letztes Mal vor der Abfahrt den grünen Schlauch anzuschließen. Zwei Stunden später nahm er mit ihr die Stufen zum Haupteingang der Akademie der Wissenschaften.  Um Punkt Elf Uhr saß eine strahlende Erika Konopke in einem viel zu breiten Ledersessel auf der Bühne des großen Saals und hielt einen Vortrag über ihre langjährige Tätigkeit als Astrophysikerin in der Deutschen Demokratischen Republik. Es war ihr Verdienst gewesen, dass die Rakete, die Sigmund Jähn am 26. August 1978 als ersten Deutschen ins All beförderte, komplikationsfrei aufbrechen konnte. Jähn war unter den Gästen. Er hielt eine vielbeklatschte Laudatio und gratulierte mit einem riesigen Blumenstrauß, der Erika Konopke fast gänzlich verdeckte. Mit zitternden Händen und nassen Augen nahm sie aus seinen Händen die Ehrenmedaille der Stadt Berlin für ihre Verdienste entgegen. Am Ende standen zweihundertfünfzig geladene Gäste in den Reihen und klatschten Erika Konopke minutenlangen Beifall. Sie hatte auf Autopilot gestellt, so groß war ihr Glück. Leicht wie eine Feder erhob sie sich aus dem Sessel. Sven kam nach vorne und reichte ihr den Arm. 

Gegen vier Uhr fuhren sie zurück in die Satellitenstadt. Sven und Gisela verabschiedeten sich erst, nachdem sie mit Frau Konopke die fünfzehn Stockwerke bis zur Wohnung hochgefahren waren. Frau Konopke warf zum Abschied Kusshändchen und bat Sven in drei Tagen wieder zu kommen. Der Pudel begrüßte sie stürmisch. Er hatte in ihrer Abwesenheit aus Ärger einen Polster zerrissen. Weiße Flocken wehten durch die Wohnung, die von den Strahlen der Fünfuhrsonne geflutet wurde. Frau Konopke zog die Urkunde auf einen Rahmen und hängte sie an den Nagel, den Sven ihr vor Wochen dafür in die Wand geschlagen hatte. Daneben hefteten ihre leicht gewordenen Finger die Medaille. Sie ging in die Küche, schnitt den Sack Hundefutter der Länge nach auf und leerte die trockenen Krümel auf den Küchenboden. Dann ließ sie ein wenig Wasser in die Badewanne und rückte einen kleinen Schemel davor. Sie streichelte den Pudel, der im Körbchen lag und noch immer auf dem Polsterbezug herum kaute. Sie rollte den grünen Schlauch auf die Trommel und zog den Stecker aus dem Gerät. 


Dann setzte sich in das sonnendurchflutete Wohnzimmer und schaute durch das Treiben der Flocken auf den Himmel vor ihrem Fenster. 


Soeben erschienen in: Allhutter, D./ Brauner, C./ Gartner, B.HG: STREUUNGSMUSTER. Promedia, Wien. 2014