Folgenden Text habe ich für TAGE @ St. Thomas geschrieben. Hier eine Nachlese.
Viel Spass!
Viel Spass!
Das
Abläuten der Zeit
Zum
Klangkunstprojekt TAGE in der St. Thomas Kirche
Von
Elisabeth R. Hager
Seit
ich vor Jahren an den Mariannenplatz gezogen bin, gibt es in meinem
Leben ein neues Geräusch. Es bimmelt in meinen Alltag hinein, es
hallt durch die Gänge meiner Ohren, es windet sich durch mein Gehirn
und klingt in steter Bemühung, die Zeit abzuläuten, in mir und um
mich herum. Die St. Thomas Kirche, meine rotwangige Nachbarin, ist
ein strahlend bauchiges Gemäuer, das einen grellbunten Park
überblickt. Kunstfelsenlandschaft at
it's best.
Und auch mit 150 Jahren auf dem Buckel und unzählbaren Stories in
den Fugen, ist sie eine Schönheit, deren Stimme weithin tönt.
In
Berlin, „wo die Leute aus Heimweh' hinziehn“1,
und besonders hier, im Herzen von Kreuzberg, kommt Ideologie im
Allgemeinen und Religion im Speziellen nicht gut an. Zu polyphon
für einen gemeinsamen Nenner tönt der Bewohner_innen-Chor. In allen
Sprachen, Stimmlagen und Tempi wird gesummt, gesungen und gegrölt;
In Kreuzberg wird noch immer laut geträumt, immer öfter allerdings
vom gro゚en
Geld, immer seltener – man verzeihe mir den Reim – von einer
besseren Welt. Doch selbst jetzt, da das Klingeln der Kassen und die
Abflüge der Start Up Raketen auch hier zu hören sind, ist die
Mischung noch immer ziemlich bunt. Und wenn ich am Sonntag Morgen aus
dem Rauschen der Welt die Kirchenglocken hör', klingt das anders als
das Geläut meiner Tiroler Katholikenkindheit: Weniger stolz, weniger
selbstgerecht, weniger fundamental. Diese Glocken dominieren den
akustischen Raum nicht, sie sind eine Stimme von vielen. Und das ist
der wichtigste Grund, warum ich sie gerne hör'.
Ja,
ich höre sie gern, aber: Wie oft hat mich das Gebimmel schon
genervt, wenn es am Abend davor spät geworden ist? Wenn ich lieber
weiterschlafen will? Wie oft hab' ich mir gewünscht, dass sie mich
verschonen mit ihrem zwanghaft fröhlichen Geläut? Als ich aber
letztens in der Thomaskirche war, um unser TAGE-Projekt
festzuklopfen, lag dort ein Faltblatt aus, indem man die Geschichte
der Kirche erfuhr. Im 1. Weltkrieg, so las ich, schmolz man ihre
Glocken ein und machte Munition daraus. Neun lange Jahre verstummten
sie ganz. Sie bimmelten nicht in die Tage der Menschen hinein, doch
trotzdem war ihr Schweigen beredt. Es markierte einen
Ausnahmezustand, der sich andernorts, an der Demarkationslinie von
Frieden und Krieg, im Geratter von Maschinenpistolen und in
Gewehrsalven entlud. Aus dem warm dröhnenden Bummm Bummm Bumm wurde
ein Mark und Bein, Knochen und Fleisch zerschneidendes
Rattattattattattatataaa. Die Idee, dass Glockenklänge zu Schüssen
werden können, beschäftigt mich seit dem Moment. Und seit ich weiß,
wie die Stille der Glocken zu lesen ist, bin ich froh über jedes
Gebimmel. Es läutet Frieden. Es läutet Normalität. Es läutet,
dass der Ausnahmezustand im Moment nicht eingetreten ist.
Vielleicht
liegt es an den Glocken, dass uns die Idee kam, unser
Klangkunstprojekt TAGE in dieser Kirche zu zeigen. Denn auch wir verkünden
die Zeit. Wir tragen sie in uns. Wir läuten sie ab, ganz ähnlich
den Glocken von St. Thomas. An jedem gelebten Tag sprechen wir das
Datum und zeichnen es auf. Und wenn wir einen Tag schweigen, ist
unser Schweigen viel weniger schlimm. (Bisher brachen keine Kriege
aus. Wir sind manchmal einfach nur vergesslich.) Dafür aber bleibt
unser Sprechen. Wir nehmen es auf und ziehen so eine Klangspur,
Datumsspur, Zeitspur hinter uns her, die uns jeden Tag daran
erinnert, dass unsere Stimmen nicht ewig klingen werden. So lange sie
aber klingen, so lange klingen sie deutlich.
Meine
rotwangige Nachbarin hat ein deutlich hörbares Organ. Und so oft sie
mich schon aus dem Schlaf gebimmelt hat, so oft erinnert mich ihr
Geläut daran, dass ich vor kurzem gekommen bin und dass ich bald
gehen werd' müssen. Dafür danke ich ihr.
TAGE
Lebenslanges Klangkunstprojekt
von
Elisabeth R. Hager & Neele Hülcker
Klanginstallation
in der Thomaskirche
04.06.2015
| 18:00 – 21:00 Uhr
20:00
Uhr: Artist Talk & Lesung
Eintritt:
Freiwillige Spenden für die von der Gemeinde betreuten Refugees
1Aus
dem Song „Evergreen“ von Blumfeld