Freitag, 5. Juni 2015

TAGE @ St. Thomas Nachlese


Folgenden Text habe ich für TAGE @ St. Thomas geschrieben. Hier eine Nachlese
Viel Spass!


Das Abläuten der Zeit
Zum Klangkunstprojekt TAGE in der St. Thomas Kirche

                                            Von Elisabeth R. Hager


Seit ich vor Jahren an den Mariannenplatz gezogen bin, gibt es in meinem Leben ein neues Geräusch. Es bimmelt in meinen Alltag hinein, es hallt durch die Gänge meiner Ohren, es windet sich durch mein Gehirn und klingt in steter Bemühung, die Zeit abzuläuten, in mir und um mich herum. Die St. Thomas Kirche, meine rotwangige Nachbarin, ist ein strahlend bauchiges Gemäuer, das einen grellbunten Park überblickt. Kunstfelsenlandschaft at it's best. Und auch mit 150 Jahren auf dem Buckel und unzählbaren Stories in den Fugen, ist sie eine Schönheit, deren Stimme weithin tönt.

In Berlin, „wo die Leute aus Heimweh' hinziehn“1, und besonders hier, im Herzen von Kreuzberg, kommt Ideologie im Allgemeinen und Religion im Speziellen nicht gut an. Zu polyphon für einen gemeinsamen Nenner tönt der Bewohner_innen-Chor. In allen Sprachen, Stimmlagen und Tempi wird gesummt, gesungen und gegrölt; In Kreuzberg wird noch immer laut geträumt, immer öfter allerdings vom gro゚en Geld, immer seltener – man verzeihe mir den Reim – von einer besseren Welt. Doch selbst jetzt, da das Klingeln der Kassen und die Abflüge der Start Up Raketen auch hier zu hören sind, ist die Mischung noch immer ziemlich bunt. Und wenn ich am Sonntag Morgen aus dem Rauschen der Welt die Kirchenglocken hör', klingt das anders als das Geläut meiner Tiroler Katholikenkindheit: Weniger stolz, weniger selbstgerecht, weniger fundamental. Diese Glocken dominieren den akustischen Raum nicht, sie sind eine Stimme von vielen. Und das ist der wichtigste Grund, warum ich sie gerne hör'.

Ja, ich höre sie gern, aber: Wie oft hat mich das Gebimmel schon genervt, wenn es am Abend davor spät geworden ist? Wenn ich lieber weiterschlafen will? Wie oft hab' ich mir gewünscht, dass sie mich verschonen mit ihrem zwanghaft fröhlichen Geläut? Als ich aber letztens in der Thomaskirche war, um unser TAGE-Projekt festzuklopfen, lag dort ein Faltblatt aus, indem man die Geschichte der Kirche erfuhr. Im 1. Weltkrieg, so las ich, schmolz man ihre Glocken ein und machte Munition daraus. Neun lange Jahre verstummten sie ganz. Sie bimmelten nicht in die Tage der Menschen hinein, doch trotzdem war ihr Schweigen beredt. Es markierte einen Ausnahmezustand, der sich andernorts, an der Demarkationslinie von Frieden und Krieg, im Geratter von Maschinenpistolen und in Gewehrsalven entlud. Aus dem warm dröhnenden Bummm Bummm Bumm wurde ein Mark und Bein, Knochen und Fleisch zerschneidendes Rattattattattattatataaa. Die Idee, dass Glockenklänge zu Schüssen werden können, beschäftigt mich seit dem Moment. Und seit ich weiß, wie die Stille der Glocken zu lesen ist, bin ich froh über jedes Gebimmel. Es läutet Frieden. Es läutet Normalität. Es läutet, dass der Ausnahmezustand im Moment nicht eingetreten ist.

Vielleicht liegt es an den Glocken, dass uns die Idee kam, unser Klangkunstprojekt TAGE in dieser Kirche zu zeigen. Denn auch wir verkünden die Zeit. Wir tragen sie in uns. Wir läuten sie ab, ganz ähnlich den Glocken von St. Thomas. An jedem gelebten Tag sprechen wir das Datum und zeichnen es auf. Und wenn wir einen Tag schweigen, ist unser Schweigen viel weniger schlimm. (Bisher brachen keine Kriege aus. Wir sind manchmal einfach nur vergesslich.) Dafür aber bleibt unser Sprechen. Wir nehmen es auf und ziehen so eine Klangspur, Datumsspur, Zeitspur hinter uns her, die uns jeden Tag daran erinnert, dass unsere Stimmen nicht ewig klingen werden. So lange sie aber klingen, so lange klingen sie deutlich.

Meine rotwangige Nachbarin hat ein deutlich hörbares Organ. Und so oft sie mich schon aus dem Schlaf gebimmelt hat, so oft erinnert mich ihr Geläut daran, dass ich vor kurzem gekommen bin und dass ich bald gehen werd' müssen. Dafür danke ich ihr.

TAGE
Lebenslanges Klangkunstprojekt
von Elisabeth R. Hager & Neele Hülcker

Klanginstallation in der Thomaskirche
04.06.2015 | 18:00 – 21:00 Uhr
20:00 Uhr: Artist Talk & Lesung

Eintritt: Freiwillige Spenden für die von der Gemeinde betreuten Refugees


1Aus dem Song „Evergreen“ von Blumfeld