Freitag, 11. Dezember 2015

Der gelbe Schal

Einakter für die Übergangszeit
von Elisabeth R. Hager


E: Es ist doch viel zu warm draußen.

Ella schaut den Mann mit dem Schal fragend an. Hinter der U-Bahnscheibe wird es dunkel. Obwohl es schon Herbst ist, sind die Temperaturen frühlingshaft. Auch jetzt noch, am frühen Abend, sind es über fünfzehn Grad.

E: Es ist total warm draußen und du trägst einen gelben Schal ...


Der angesprochene Mann steht wie ein verschlossener Schrank vor ihr.


E: Ich will wissen warum.


M: Mhmm?


E: Na der Schal! Der ist doch - wie gesagt - viel zu warm für einen Tag wie heute! Also sag schon, bist du ...?


M: (räuspert sich) Es ist eben mein Schal. Und bitte gehen Sie einen Schritt zur Seite, ich muss bei der nächsten Station raus.


E: Ich auch.


Ella grinst. Sie schweigen.


E: Is' doch komisch, dass wir die einzigen Leute im Abteil sind, oder?


M: Nein. Um diese Uhrzeit sind hier nie viele Leute unterwegs.


E: Ah... Sie kommen also öfter her?


M: Also bitte.


Die U-Bahn hält und spuckt Ella und den Mann mit dem gelben Schal auf einen menschenleeren Bahnsteig. Der Mann beeilt sich fortzukommen. Ella springt hinter ihm her.


E: Hey, wo willst du denn hin?


M: Was geht dich denn das an! Lass mich in Ruhe, du Kind!


E: Ich bin kein Kind, ich bin nur etwas kleiner als der Durchschnitt. Ich bin sechzehn, also, ich meine, nächste Woche, aber das ist jetzt egal. Ich rede mit dir, weil du den Schal anhast. Hab' ich sofort erkannt, dass du zu uns gehörst.


M: Zu uns?


E: Na, zum Netzwerk.


M: Zum Netzwerk?


E: Hey, du kannst mir vertrauen. (Sie zieht einen Schal, gelb wie der des Mannes, aus ihrer Tasche). Siehst du? Bleib locker, ich bin die Neue. Toll oder?


Der Mann blickt fassungslos auf den anderen Schal. Dann reisst er sich mit einem Ruck von der Szene los. Ella hält ihn am Ärmel fest.

E: Hey, krieg dich ein. Ist alles safe. Ich bin einfach nur die Neue. Ella, übrigens.


Er bäumt sich vor ihr auf.

M: Also, Ella. Ich weiß echt nicht, was das soll. Ich will deinen Schal nicht sehen und ich bin auch nicht Teil von irgendeinem Netzwerk. Ich bin ein unbescholtener Bürger, der mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist.


E: Wohin denn?


M: Das geht dich überhaupt nichts an! Du bist einfach ein fremdes Mädchen, eine Passantin, eine Zeitgenossin in der U-Bahn.


E: Aha, "Genossin". Da haben wir es doch! Das ist jetzt so eine Art Test, oder? Ob ich mich abhalten lasse oder nicht. Es ist ein Test. (Sie klatscht in die Hände) Und ich hab' bestanden!


M: Ach du Scheiße, das ist kein Test ...


E: Ach, ich erkenn das an deiner Stimme! Der Boss wird sich freuen. So eine gute Kämpferin wie mich findet der nie wieder! Ich gewinne sogar gegen den Mann mit dem gelben Schal. Wie heißt du überhaupt?


Das Gesicht des Mannes erinnert gefährlich an einen Druckkochtopf. Er wird rot und röter. Dann platzt er.


M: Also gut. Ich heiße Fred. Und ich trage diesen Schal seit nunmehr zwanzig Jahren. Im Sommer und im Winter und in den Jahreszeiten dazwischen. Ohne den Schal gehe ich seit 2008 nicht mehr vor die Tür. Er beschützt mich vor den Mächten des Bösen. Ich wusste nicht, dass es irgendwo ein Netzwerk gibt, in dem gelbe Schals ein Erkennungszeichen sind. Damit habe ich nichts zu tun, obwohl es mich doch auch irgendwie freut. Ich hoffe jedenfalls, dass eure Schals auch so gut arbeiten wie meiner. Und, kann es deiner?


E: Was?


M: Na, na das weisst du doch! Sag schon! Kann es deiner auch?


E: Was soll er denn können? (Ella bekommt ein ängstliches Gesicht, flüstert) du Psycho?


M: Ha. Erst orgelst du mich voll und dann bringst du auf einmal kein Wort mehr heraus. Ich frage: Kann dein Schal fliegen?


Ella schaut ihn entsetzt an. 

M: Ist das denn zuviel gefragt? Ha? Kann er es? (Er schreit mittlerweile) Kann dein kleiner lausiger gelber Schal fliegen?

Ella läuft panisch davon.

M (ruft ihr nach): Meiner nämlich schon!