Dienstag, 25. Oktober 2016

Martes Schmalz (Teil 1)

Hier als literarisches horsd'oeuvre der 1. Teil einer in Arbeit befindlichen Kurzgeschichte mit dem Titel "Martes Schmalz"...

Martin sah nur von außen aus wie ein Punk. Im Inneren regierte, wenn auch unter anderen Vorzeichen, die Ordnung. Er war ein Mann der Gewohnheit. Seit bald zwanzig Jahren arbeitete er bei jedem Wetter als Briefträger in Kreuzberg. Die Arbeit war hart, doch nicht ohne ihre kleinen Freuden und sie bescherte Marte, wie ihn seine Freunde nannten, freie Nachmittage ab 15 Uhr. 

Marte war ledig, gern mit sich allein und hatte sich komfortabel inmitten seiner Routinen eingerichtet. Vom Temperament einer trägen, friedlichen Katze nicht unählich, verabscheute Marte den Wechsel. Wenn er in seinem Bezirk einen Umzugswagen sah, was in letzter Zeit immer häufiger vorkam, blickte er beunruhigt zu Boden. Wenn sich die Namen auf den Klingelschildern änderten und neue Namen auf den Briefköpfen seines Zustellungsbezirkes auftauchten, konnte ihm das ganze Nachmittage verderben. Da Marte wusste, dass die Menschen das Chaos in sich tragen, hatte er vorgesorgt und das eigene Leben in unzählige sich wiederholende Abschnitte eingeteilt. 

Morgens vor der Arbeit las er die linksgerichtete tageszeitung oder vielmehr studierte er sie von der ersten bis zur letzten Seite. Dann fuhr er mit dem Fahrrad zum Postamt, wo er die vorsortierten Briefe für seinen Zustellungsbezirk abholte und auf das Dienstrad wechselte. Mittags aß er in der Kreuzberger Markthalle, abends kochte er selbst und trank dazu reichlich Sternburg Pilsner. Nur am Wochenende traf er sich ab und zu mit Gleichgesinnten in einer Fußballkneipe, um seiner Mannschaft Borussia Dortmund beizustehen.
Am Mittwoch kaufte er, meist kurz vor Ladenschluss, im Fischladen in der Adalbertstraße eine Handvoll Sprotten, die er sich in der Pfanne briet. Am Sonntag Abend schaute er wie alle anderen deutschsprachigen Mieter in seinem Haus, den Tatort und rauchte den einzigen Joint der Woche. Dann streckte er sich leicht benebelt auf seinem Bett aus und ließ die neue Woche kommen.

Obwohl er im Herzen ein Freidenker war, befolgte er auch bei der Körperpflege strenge Regeln. Jeden Morgen rasierte er sich mit derselben Gründlichkeit. Montag, Mittwoch und Freitag wurde geduscht, am Sonntag gönnte er sich ein Bad. Er putzte sich zweimal täglich die Zähne, wenn möglich drei Minuten lang. Jeden zweiten Sonntag schnitt er sich seine Nägel, jeden dritten Samstag, ehe er in die Kneipe ging, stutzte er sich seinen Irokesenhaarschnitt, rasierte sich die Seiten aus und säuberte seine Ohren.


Der Tag, an dem sich Martins Leben ändern sollte, war so ein Samstag. Wie immer am Wochenende trat er später als sonst aus dem nachtwarmen Zimmer in den kühleren Gang hinaus, ging die vier Schritte zum Badezimmer und erledigte seine Toilette. Das Geräusch der Haarschneidemaschine erinnerte an das Surren einer Katze. Marte liebte dieses Geräusch, das Wort „Erneuerung“ geisterte durch sein Hirn. Nach dem Rasieren der Seiten blickte er sich im Spiegel an. Ja, er sah nicht schlecht aus im Grunde. Das Radfahren und die viele Bewegung an der Luft hielt ihn auch in seinen Vierzigern schlank und bildete ein willkommenes Gegengift zum überdurchschnittlichen Bierkonsum, den er sich auch um den Preis eines stattlichen Bäuchleins nicht nehmen ließ. Zufrieden drehte er sein Spiegelbild nach rechts und links. Er klopfte sich die dunkelblonden Stoppeln vom Shirt und öffnete die rechte Schranktür seines Aliberts, wo er sich ein Wattestäbchen aus einer kleinen Plastikbox fischte und es zufrieden in seinem rechten Ohr versenkte. Einmal linksherum, einmal rechtsherum, behutsam darauf bedacht, die zarte Apparatur des Innenohrs nicht zu beschädigen. Ein seltsames Gefühl von Vollständigkeit überkam ihn, während das Ohrenstäbchen tief in der Körperöffnung steckte, aber auch ein Gefühl als würde er von innen heraus abgehört.

Als sein Blick beim Herausziehen das Wattestäbchen streifte, stutzte er. Statt des üblichen gelblich orangefarbenen Ohrenschmalzes klebte da eine Masse, die Marte noch nie gesehen hatte. Mhmm. Sie war, ja, anders konnte man es kaum sagen, sie golden. Er führte das Stäbchen zur Nase, roch daran, schreckte angeekelt zurück. Das Zeug roch wie Ohrenschmalz. Auch von der Konsistenz her wirkte es so, nur die Farbe, dieser wunderschöne, majestätische Ton verlieh der seltsamen Schmiere auf dem Stäbchen den Nimbus des Erhabenen. 

Ungläubig steckte Martin das unbenützte Ende des Stäbchens ins Ohr zurück und drehte nun etwas weniger vorsichtig darin herum. Als er es herauszog war da wieder dieses Strahlen. Was war ihm da nur ins Ohr gekommen? Er konnte sich nicht erinnert, goldene Farbe abbekommen zu haben. Er griff sich ein neues Stäbchen aus dem Schrank und stieß es aufgeregt ins Ohr. Der Schmerz fuhr vom Ohr quer durch den Kiefer bis zum Hals. Als er das Stäbchen aus dem Ohr fischte, klebte darauf ein goldenes Körnchen. Er steckte ein Stäbchen ins andere Ohr und siehe da, auch in diesem Ohr hatte das Schmalz die königliche Farbe. So ein Quark dachte er und rieb sich das schmerzende Ohr. So ein Quark!

Verwirrt verließ er das Badezimmer.


to be continued...