Sonntag, 8. Mai 2016

Plädoyer für ein Leben als Fragment


                                                         Für Katia 

Jedes Leben eine Unzahl von Zügen, die täglich die Schranke des Körpers passier'n, sich im Inneren verzweigen, ankommen, verspäten, eines Tages anhalten dann und das war's. Zwölf Züge pro Minute, 17 300 am Tag, 6 307 200 im Jahr. Und so weiter bis zum allerletzten Zug.

Teppichfragment aus China, 3 - 4.Jh.
Jedes Leben ein Bündel loser Fäden, aus denen uns're Gedanken entstehen, uns're Sätze, Glaubenssätze, Gedankengebäude und sogar die echten, mit Stahlträgern drin, die aus Beton.Tausende Fäden am Tag verknüpft jeder Mensch jeden Tag zum Muster seines Lebens. Jeder für sich ein Fragment.

Woraus besteht das Leben? Aus dem Schienennetz, das über die Jahre aus unseren Routinen entsteht? Aus dem Teppich, dessen einzigartiges Muster von unseren Entscheidungen erzählt? Von dem, was wir gemacht haben? Und was nicht? Wer wir gewesen sind? In der Rückschau, wenn man immer klüger ist?

Ich lebe jetzt. Und jetzt. Und jetzt. Was ich habe, sind Momente. Ich will die Geschichte nicht vom Ende her denken, am Ende, das weiß ich, steht der Tod. Der Teppich ist fertig, wenn der letzte Faden geknüpft ist, doch das fertige Ding lebt nicht mehr. Wir aber leben, du und ich! Zumindest heute. Zumindest jetzt im Moment. Also komm: Lass uns Gedankenfäden sammeln, Wortfetzen, die uns der Wind zuträgt! Lass uns das Unfertige archivieren, die Einkaufszettel, to-do Listen, das Flüchtende, Schwindende, das Gerade-noch-nicht! Lass uns Duftproben nehmen und Momente fangen geh'n! Lass uns das Leben feiern als Fragment einer flüssigen Zukunft, als etwas, das immer weiter formbar ist. Lass uns aufhören mit den Aussagesätzen, den Feststellungen, den verbalen Daumenschrauben, den Einklemmungen von Gedanken! Das Bild ist nur fertig, wenn du es so nennst! Lass uns weitersuchen! Lass uns weiterforschen! Lass uns das leben, leben als Fragment!